Sie weiß, was du letzten Sommer getan hast

Totale Vernetzung, jederzeit und überall abrufbare Daten, gläserne Bürger – eine Horrorvorstellung für die meisten Menschen. In Estland ist man diesen Weg schon recht weit gegangen, und der Künstler Timo Toots zeigt zurzeit im Edith-Ruß-Haus, wo er hinführen könnte.

Wann, was, wieviel, wen? Memopol kennt seine Benutzer besser als die meisten anderen. FOTO: EDR

Wann, was, wieviel, wen? Memopol kennt seine Benutzer besser als die meisten anderen. FOTO: EDR

„Memopol II“ ist eine Maschine, die ihren Betreiber gewissermaßen virtuell die Hosen herunterzieht – sobald sie den Personalausweis gescannt hat, gibt sie Auskunft darüber, wo er wohnt, wen er kennt, wieviel er verdient, welche Pillen er schluckt und wie es in seinem Oberstübchen aussieht. Das wirkt, zumindest in der Installation im Edith-Ruß-Haus für Medienkunst, zunächst wie eine kurzweilige Spielerei, eine Mischung aus Zufallsgenerator und automatisiertem Googlen. Aber der Spaß ist nur vordergründig. Die Maschine kennt keinen Humor, nur Zahlen; und nach erfolgter Analyse aller Daten reduziert sie ihre Benutzer auf eben diese.

Für den Durchschnittsbesucher wirkt das Ganze ziemlich science-fiction-mäßig, für den Künstler Timo Toots ist es das nur bedingt. Toots lebt in Estland, einem Land, das die Idee der elektronisch vernetzten Gesellschaft weiter vorangetrieben hat als jedes andere: Nahezu jeder Este besitzt ein Handy, der Zugang zum Internet ist gesetzlich verankert und über zahllose öffentliche Hotspots und Terminals gewährleistet, sogar die Teilnahme an Wahlen ist längst online möglich. Die Digitalisierung geht aber noch viel weiter: Der estnische Personalausweis ist eine Chipkarte, mit der sich rechtsverbindliche Verträge digital abschließen lassen; man kann mit ihm bezahlen, Behördenkram erledigen und er funktioniert auch als Krankenversicherungskarte.

Der Ausweis weiß, kurz gesagt, eine ganze Menge über seinen Inhaber – und da alle denkbaren Interaktionen online ablaufen, drängt sich die Frage auf, wer das noch alles weiß. Oder zumindest in Erfahrung bringen kann. Die Antwort liegt nahe: Der estnische Staat hat auch in punkto Datensammlung alle anderen EU-Staaten hinter sich gelassen. „Memopol II“ tut im Prinzip nichts anderes, als dieses staatliche Portal zu simulieren; dass Besucher des Museums zunächst einen gefaketen Registrierungsvorgang absolvieren müssen, um die Installation zu betreten, ist da nur folgerichtig.

Die digitale Revolution werde in Estland eher gefeiert als gefürchtet, sagt Jan Blum, Mitarbeiter am Edith-Ruß-Haus: Viele Esten nähmen sie vor allem als Erleichterung im Umgang mit alltäglichen Dinge wahr. Das persönliche Profil eines Menschen definiere sich nicht mehr nur über dessen physikalische Existenz, so Toots – es gebe noch das andere, das digitale, über das er manchmal nur wenig Kontrolle habe und das stetig wächst, jedes Mal, wenn man elektronisch bezahlt oder sich in einem Sozialen Netzwerk bewegt.

Dass „Memopol II“ eher schräge Ergebnisse ausspuckt, liegt daran, dass der eingescannte deutsche Perso nicht allzu viele Daten hergibt – noch nicht. Aber die Installation umfasst weitere, in Oldenburg erstmals zu sehende Räume; und dort wird es langsam ernster, viel ernster. Im Untergeschoss werden die Marktwerte der Benutzer von „Memopol II“ im Stil der bekannten Laufbänder aus Nachrichtensendungen an die Wand geworfen, inklusive Kursschwankungen. Ihre Leistungsfähigkeit und Krankheitsanfälligkeit wird analysiert und zu einem durchschnittlichen Prozentsatz zusammengefasst, der letztlich den Grad der Funktionalität des Betreffenden beschreibt. Arbeitgeber würde das wohl sehr interessieren, und spätestens hier fadet die Zukunftsmusik langsam aus – letztlich ist die elektronische Gesundheitskarte der erste Schritt in diese Richtung.

Ihren Höhepunkt findet die Installation im letzten Raum, einem vollautomatisierten Gerichtssaal. Die Entwicklung wurde von Toots hier konsequent weitergedacht: Die Maschine geht eine Reihe von fiktiven Strafrechtsparagraphen durch und gleicht diese mit den Eingaben der bisherigen Ausstellungsbesucher ab. Die Ergebnisse lesen sich lustig: „§177a: It is forbidden to complain about Markus“, steht da, gefolgt vom Namen des Benutzers und dem Schuld- oder Freispruch, immer wieder, Punkt für Punkt. „Ein elektronisches Jüngstes Gericht“, sagt Blum, „ohne Möglichkeit, sich zu verteidigen“. Wozu auch – schließlich ist eine Maschine nüchtern, unbestechlich und richtet sich nach den Fakten; sie ist die effizienteste Methode zur Industrialisierung der Rechtsprechung.

Bis es soweit kommt, werden noch viele Datenmengen durch die Glasfaserkabel fließen. Toots’ Installation wirft aber schon jetzt die Frage auf, wie weit dieser Weg wohl sein wird – an der Technik würde es ja schon heute nicht mehr scheitern.