Das Eckige, das Runde und das Orange

Der gesellschaftliche Druck war zu groß: Ein Teil der mäßig EM-begeisterten Lokalteilredaktion hat sich, allen reizvoller erscheinenden Möglichkeiten der Abendgestaltung eine Absage erteilend, aufgemacht zum öffentlichen Fußballgucken; nicht beim Public Viewing, sondern in der Kneipe. Ein Selbstversuch mit konsequent-boulevardesker Anwendung der ersten Person Plural.

Kriegsbemalung. FOTO: bl

Kriegsbemalung. FOTO: bl

22:55 Ein rot angelaufener Mann aus einem am Korso teilnehmenden und überbordend beflaggten Streitwagen bölkt einen Radfahrer mit längeren als streichholzlangen Haaren an, er solle “schön aufpassen”, der “Bombenleger”. Derart rückversichert, was die ach so tolle Leichtigkeit und Unschuld des neuen deutschen Fuba-Patriotismus angeht, beenden wir diesen Abend mit der gesummten Weise: “Wir können nach Hause fahren.”

22:50 Außerhalb der Kneipe: Ein für Oldenburger Verhältnisse erklecklicher Autokorso hat sich gebildet, und wir fragen uns nicht zum ersten Mal, worin genau eigentlich der Reiz besteht, sich unmittelbar nach dem Abpfiff in ein Kraftfahrzeug zu begeben, um anschließend Rohstoffe für nichts zu verplempern und einem nicht unerheblichen Teil der Mitbürgerschaft auf die Nerven zu gehen. Vielleicht arbeitet ein Wissenschaftlerteam daran, das wäre dann unter Umständen ig-nobeltauglich.

22:45 KMH begrüßt die Zuschauer auf ihrer merkwürdigen Seebühne, aber darauf gehen wir jetzt nicht weiter ein, da wir versprochen haben, keine weiteren KMH-Witze zu machen. Und weil wir keine Lust haben, auch nur zwei Minuten lang den Ausführungen eines Oliver Kahn zu lauschen.

22:38 Aus, aus, das Spiel ist aus. “Wir” gegen “sie”: Zwei zu eins, ein beliebtes Ergebnis in den bisherigen deutsch-niederländischen Duellen. So wie Anno ’74, um mal ein Pfund Salz in die Wunden eventuell mitlesender niederländischer Nachbarn zu streuen. Man möge uns diesen Anflug von Gehässigkeit verzeihen, das liegt an den herumfliegenden Fußballpatriotismuserregern, gegen die wir nicht genug Abwehrzellen gebildet haben.

22:35 In den letzten Sekunden nochmal sowas wie Stimmung in der Bude, während sich die Spieler müde den Ball zuschieben. Stimmung heißt: Rhythmisches Klatschen, begleitet von der einzigen Ratsche im Haus.

22:29 „Jogi Löw ist erschöpft“, sagt der Kommentator, „von den vielen Anweisungen“. Dafür haben die Spieler, die ja bloß ein paar Kilometer gelaufen sind, sicher Verständnis. „Sie sitzen da wie eine geschlagene Armee“, sagt er zu einer Aufnahme der ausgewechselten Robben und van Bommel, und das ist nicht nur aufgrund des Mangels an Blut ein untaugliches Bild, sondern auch so historisch betrachtet vielleicht ein kleines bisschen unglücklich. Es reicht doch, dass wir ihnen die Fahrräder geklaut haben.

22:26 Es ist ruhig im nach wie vor knüppelvollen Havanna. Es ist indes keine atemberaubende Spannung, die sich über das Publikum gelegt hat, eher ein bisschen Langeweile und „Wann isses endlich vorbei“-Gefühl. Dabei ist in diesem Spiel das letzte Wort noch nicht gesprochen (10,- €).

22:22
Gelb für de Jong. Kann man geben (Phrasenschwein: 8,- €). Özil geht. Robben auch. Glücklich sieht er nicht aus. Wir lernen, dass auch die Unterhemden der Holländer orange sind.

22:20 Die Klapperpappe eignet sich auch als Fächer. Obwohl hier, im Gegensatz zur Ukraine, keine 30 Grad herrschen.

22:18 Özil erleidet einen akuten Schwächeanfall in der Nähe des Elfmeterpunktes. Kein Pfiff – der bewaffnete Aufstand bleibt trotzdem aus.

22:15 Anschlusstreffer für die Niederlande durch van Persie. Mitbekommen hat man es nicht: Kein Geschrei, kein Haareraufen, kein Zähneklappern. „Wieder ‘n bisschen Spannung“, kommentiert ein Zuschauer trocken, und wir finden, dass man im Norden ganz gut Fußball gucken kann.

22:13 Boateng wirft sich todesmutig in einen Schuss. Hat sicher wehgetan. Er verzichtet aber dankenswerterweise auf das übliche theatralische Gehabe. Gomez wird ausgewechselt und vom Havanna-Publikum mit Jubel verabschiedet.

22:12 Der Kommentator erwähnt zum gefühlt zwölften Mal, dass am Spielort 30 Grad herrschen. Und wir dachten, dass da ewiger Winter herrscht. Ist doch alles Osten da.

Zeit für einen kleinen Ausflug auf den Pferdemarkt. FOTO: bl

Zeit für einen kleinen Ausflug auf den Pferdemarkt. FOTO: bl

22:07 Trockene Feststellung eines Zuschauers: „Die Spannung ist weg. Eigentlich könnten wir auch ins Bett gehen.“ Recht hat der Mann, auffem Platz passiert nicht viel. Zeit für eine kurze Lektion in politischer Rhetorik, die er gleich nachliefert: Es gibt nun nicht mehr nur „sich etwas wulffen“, sondern auch „sich etwas niebeln“. Recht gesprochen, aber derartige Themen sprechen nicht für die Qualität des Spiels.

22:04 Ein Mann namens van Persie schießt knapp am Tor vorbei. Nur damit es nicht heißt, wir würden niederl holländische Chancen verschweigen. Darüber, ob das Orange der Trikots wirklich hübsch ist, kann man ja streiten – aber die Nummern sehen aus, als wären sie mit Gaffertape angeklebt.

22:02 Nach der ermüdenden Überbetonung der angeblichen deutsch-niederländischen Todfeindschaft, mit der uns alle möglichen Medien in den vergangenen Tagen zugedonnert haben, müssten in den Niederlanden mittlerweile die ersten Plünderungen begonnen haben. Mit einem stabileren Internetzugang würden wir ja online nachschauen, aber vermutlich würden die meisten Medien es vor lauter Fußballgetickere eh nicht mitbekommen. Eine Pest, dieses Getickere.

21:56 Nun ja, „sie wollen die Holländer jetzt nicht gleich deklassieren“, kommentiert ein Zuschauer das Gebolze. Irgendwo klappert eine, Sie ahnen es, Klapperpappe. Direkt neben uns ratscht eine Ratsche. Und am Tresen säuft ein… lassen wir das.

21:54 „Arrgh!“ „Ouuhh!“ „Neiiiin!“ Der Sechser hat soeben eine Torchance verpasst. Wir überlegen kurz, ob wir mit unserem Wissen über das Vorhandensein einer “Doppel-Sechs” prahlen sollen, das uns vor zwei Jahren unfreiwillig eingebläut worden ist, lassen es aber bleiben.

21:50 So, zweite Halbzeit, und Gomez liegt am Boden. Er hält sich die Hände vor das Gesicht, aber das will nichts heißen: Fußballer halten sich immer die Hände vors Gesicht, auch nach einem satten Tritt an den Knöchel (und dem kurzen, hektischen Blick Richtung Schiedsrichter, ob er die folgende schauspielerische Einlage auch mitbekommt).

21:45 Eingedenk unseres Wunschergebnisses muss Holland – wir bleiben in unserem Zustand der Fußballbesoffenheit einfach mal bei dieser boulevardesken Vereinfachung des Staatssystems des Königreichs der Niederlande – jetzt mal abliefern (Phrasenschwein: 6,- €). Drei Tore müssen her, dann verzichten wir auch auf die weitere Verwendung des Wortes „Eingedenk“.

21:30
Auch der unerfahrene Fußballgucker weiß, dass der beste Moment, aufs Klo zu gehen, die Minute vor dem Halbzeitpfiff ist. Vor der Spontanbildung der ewig langen Schlange. Gelegenheit für ein kurzes Trikotzählen: Zwei Müllers, ein Götze, ein Klose und zahlreiche namenlose. In den kommenden Tagen wird der Absatz an Gomez-Leibchen wohl zulegen.

21:27 Und jetzt alle: „Ohne Holland komm’ wir durch die W… äh, EM!“ Nein, war doch nur einer, der diese Weise intonierte. Wir sitzen übrigens im Epizentrum der Stimmungskanonen: An unserem Tisch befindet sich die Ratsche, offenbar die einzige im ganzen Lokal.

Hatten wir schon den einsamen Kölner Fan erwähnt? FOTO: Beate Lama

Hatten wir schon den einsamen Kölner Fan erwähnt? FOTO: Beate Lama

21:23 Gerade salbedert der Kommentator, dass Holland „viel öfter den Ball“ habe, und wir fragten uns, ob die das eigentlich dürfen, da drischt Gomez, der Wundgelegene, den Ball mal eben ins Tor. Diesmal springen mehr Leute auf. Die Klapperpappen klappern pappig.

21:21 Das Zufallkommen eines schwarz-weiß uniformierten Spielers führt zu sofortigem “EY!!!”-Gerufe. Oder, bei unpatriotischeren Zuschauern, zum gemurmelten “Eine Schwalbe sondergleichen”.

21:17 ZDF-Kommentator: „Abseits mit Gomez“. Klingt wie ein komischer B-Movie. Gomez habe sich ja wundgelegen, werden wir von unserem Nachbarn informiert, aber Jogi habe ihn öfters mal umgebettet.

21:13Nach 28 Minuten fühlt sich der Kommentator zu der Analyse berufen: „Holland ist noch nicht hundertprozentig ausgeschieden…“ Äh, nein.

EM Holland Jubel

Beweisfoto: Es gab auch Torjubel. FOTO: Beate Lama

21:08 Die norddeutsche Stimmung wird etwas süddeutscher, als Gomez nach einem tödlichen Pass von Schweini (Phrasenschwein: 4,- €) zum 1:0 trifft. Nach zwanzig Sekunden tritt aber auch schon wieder eine weitestgehende Beruhigung ein.

21:05 Badstuber und Robben knallen zusammen. „Bei den Haaren ist das bei Robben ja eher eine Glatzwunde“, sagt ein Tischkamerad. Hihihi. Es macht doch mehr Spaß als befürchtet.

21:03 Jungejunge, das geht ja rund da auf dem Platz. Tschuldigung: Es heißt „Auffem Platz“. Es geht hin und her, aber vielleicht täuscht das auch; so richtig schön ist das Spiel nicht.

21:00 Robben, der Egozentriker, wirft ein. Zumindest sind sich alle Medien heute einig, dass der Bayern-Spieler so einer ist, der immer nur an sich denkt. Immerhin: Den Einwurf wirft er zu einem Mitspieler.

20:57 Eigentlich dachten wir, dass man irgendwann beim Namen „Lahm“ für einen Fußballspieler nicht mehr giggeln müsste. Müssen wir trotzdem. Bier ist schuld.

20:53 Özil sieht für einen Moment aus wie eine Tipp-Kick-Figur, als er einen verirrten Ball aufs Tor drischt.

20:51 Erster Blick auf die Leinwand, und gleich sowas wie eine Chance. Aber nicht für uns. Bei den Niederländern spielt ein Jetro Willems mit, der allein von seinem Namen her auch eine Karriere als Musiker anpeilen könnte, wenn’s mit dem Fußball nichts wird.

20:50 Unsere Tischkameraden kommen aus Tschechien. Wir werden uns also auf keinen Trinkwettbewerb einlassen. Sie sind aber schwarz-rot-gold bemalt und behutet.

20:48 Drei Minuten gespielt, immer noch kein Tor. Dabei würde ein solches dem Spiel gut tun. (Inhalt des Phrasenschweins: 2,–€).

20:42 Die Aufstellungen wabern über die Leinwand. Irgendjemand hat es offenbar für ein duftes Stilmittel gehalten, wenn die Oberkörper der Spieler, testosterongeschwängert die muskulösen Oberarme verschränkend, ins Bild geschoben werden. Und irgendwer muss sich dann darum gekümmert haben, dass alle rund 350 Spieler da filmtechnisch mitmachen. Was für ein Job.

20:40 Kein Netz, nirgends: Die UMTS-Sticks fliegen in die Rabatten. Nein, fliegen sie nicht, waren teuer genug. Aber sie wandern wieder in die Tasche. Wir nehmen Abstand vom „Live“ im Wort „Liveticker“ und erfinden zwischen Tür und Angel den Hinterherticker. Grimme-Preis, wir kommen.

20:32 Zum Beispiel hier: Klapperpappe.

20:31 Wir finden das Wort „Klapperpappe“ so schön, das wir es sicher noch ein paarmal bringen werden.

20:30 Die NWZ macht sich um einen ordentlichen Nationalstolz verdient und hat zusammenfaltbare Klapperpappen verteilt, auf denen die dritte Strophe der Nationalhymne aufgedruckt ist. Doof: Wenn man die Klapperpappe zusammengeklappert, äh, -gefaltet hat, kann man die Hymne nicht mehr lesen. Man müsste sie auswendig lernen. Aber hier singt eh niemand mit.

20:22 Ein Fußballfan aus Köln sitzt traurig in der norddeutsch geprägten Meute. Er ist frustriert, sagt er, dass die Stimmung hier so mau ist. Wir nehmen ihn aber nicht so ganz ernst, denn wir wissen, dass Kölner Fußballfans ja sowieso immer gefrustet sein müssen.

EM Holland Baum

Ein Baum, ein Baum, es ist ein Baum. FOTO: bl

20:15 Wir befinden uns mittlerweile im rappelvollen Havanna und haben den letzten freien Tisch belegt. Der Baum im Hof verdeckt dankenswerterweise auch nur die halbe Leinwand. Die mit dem niederländischen Tor, in der ersten Halbzeit. Da passiert eh nicht viel.

20:05 Tüdeldüt, der Verkehrsfunk: Nicht-Fußballfans werden gebeten – oder besser: ihnen wird geraten -, den Bereich Wallstraße / Lappan / Heiligengeiststraße / Pferdemarkt weiträumig zu meiden. Sagen Sie nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt.

19:52 Abpfiff: Portugal schlägt Dänemark 3:2. Damit steht auch unser Wunschergebnis für das Deutschlandspiel fest: 3:2 für die Niederlande, oder, wie viele gerne abkürzend sagen, “Holland”. Weil: Irgendwann kommen bei so einem Turnier unausweichlich die Teilnehmer des Hauptseminars “Angewandte Statistik” aufgelaufen und rechnen einem ungefragt sämtliche Eventualitäten für den letzten Vorrundenspieltag vor. Und wir möchten, dass die es diesmal so schwer wie möglich haben. Oder es gleich ganz bleiben lassen, danke im Voraus.

19:40 Dänemark gleicht zum 2:2 gegen Portugal aus. Jubel im Swutsch, ein Unentschieden wäre gut für uns. Auf der anderen Straßenseite jubelt man satte sechs Sekunden früher – der Fluch des Internet-Datenübertragungs-contra-TV-Unterschiedsdings. Wenige Minuten später erzielt Portugal das 3:2, und der ZDF-Kommentator ruft “Toooooooooooor!” mit zwölf “o”s, wir haben mitgezählt. Das müsste er bei einem etwaigen Tor von uns gegen die Niederlande erstmal toppen.

19:33 Es lohnt sich, an dieser Stelle nochmal Leon de Winter zu zitieren, der dem Spiegel-Interviewer folgende unsterbliche  Worte in den Block diktierte: “Fußball ist angewandter Wahnsinn. [...] Du identifizierst dich mit elf Top-Athleten wie mit Kriegern. Wir wollen alle Krieger sein und das andere Team töten. Den Ball ins Tor zu schießen ist ritualisierte Vergewaltigung, da kommen unsere archaischen Triebe durch.”

19:30 Ein Blick in die Presse scheint die “Spiel der Spiele”-These indes zu untermauern. Eine ganze Reihe von Blättern macht die Titelseite mit dem heutigen Spiel auf; die taz präsentiert sich gar mit Titelbalken in oranje. Der ehemalige niederländische Nationaltorwart Hans van Breukelen wird durchgereicht, nachdem er sowas gesagt hat wie “Ich bin in Deutschland verliebt.” Oder zumindest in den deutschen Fußball. Die Süddeutsche bringt ein großformatiges Foto aus dem Jahr 1988, auf dem van Breukelen seine Liebe Rudi Völler in die Löckchen brüllt.

Alles bereit. FOTO: Beate Lama

Alles bereit. FOTO: Beate Lama

19:02 Und noch einmal KMH, wie sie in der Sportwelt aufgrund des hohen Tippfehlerpotenzials gerne genannt wird: Als sie einen Satz mit “Um zwanzig Uhr fünfunvierzig…” begann und anschließend ein paar Sekunden lang der Ton weg war, haben mehrere Personen unabhängig voneinander den Satz mit “… wird zurückgeschossen” beendet, hehehe. So, und hiermit erklären wir die Ära der Müller-Hohenstein-Naziwitze nunmehr offiziell für beendet. Es war uns ein innerer Reichsparteitag.

19:01 Gibt man bei Google “katr” ein, liegt Müller-Hohenstein trotzdem nur auf den zweiten Platz der Auto-Vervollständigungsfunktion. Vor ihr liegt Katrin Bauerfeind. Gibt es einen handfesteren Beweis der allgemein eher durchwachsenen Fußballbegeisterung im Land? Wir meinen: Nein.

19:00 Das Vorglühen läuft auf vollen Touren. In der Halbzeitpause des anderen Gruppenspiels zeigt das ZDF eine Luftaufnahme des deutschen Mannschaftsbusses, auf dem Weg zum “Spiel der Spiele”, wie Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein in kaum gezügelter Vorfreude losschnattert. “Spiel der Spiele”? Haben wir zwei Wochen im Koma verbracht und es ist schon Finale? Ein kurzer Blick auf den Kalender zeigt uns, dass das nicht der Fall ist; es handelt sich nach wie vor bloß um das zweite Vorrundenspiel, das bestenfalls vor-, aber nichts endgültig entscheidet. Vielleicht handelt es sich um eine Absicherung für den Fall des Falles: Wenn wir schon nicht Europameister werden, haben wir wenigstens das Spiel der Spiele gewonnen. Oder verloren.