Untote Datenkästen

Ein klassisches Motiv der Kriminal- und Spionageliteratur, neu entdeckt: der tote Briefkasten. Im 21. Jahrhundert sieht der anders aus und hat – natürlich – auch einen cooleren Namen.

Niemand hat die Absicht, einen Stick einzumauern. FOTO: M. Nolte

Niemand hat die Absicht, einen Stick einzumauern. FOTO: M. Nolte

Sie sind unscheinbar und zugleich offen sichtbar, wenn man weiß, wo man nach ihnen schauen muss. Sie stecken in Hauswänden, Begrenzungsmauern und Bordsteinen; und sie haben ebenso hipp wie geekig klingende Namen wie „Rockalot“, „MSHooker“ oder „Mr.Brown-Mlle.Beige-Drop“. Nicht, dass diese Namen irgendwie wichtig wären. Wichtig ist, was auf ihnen gespeichert ist, auf den USB-Sticks, die von Filesharern an öffentlich zugänglichen Stellen eingemauert wurden – „DeadDrops“ sind die modernen Nachfolger der klassischen „toten Briefkästen“ aus Agentengeschichten. Ihr Daseinszweck ist heute allerdings weitaus weniger klandestin, statt Mikrofilmen mit geheimen Raketenplänen findet man dort eher Musik, Fotos oder Filme.

Zwei DeadDrops soll es in Oldenburg geben, einen im Uni-Umfeld, einen weiteren im Bahnhofsviertel. Drei weitere in Bremen, ein knappes Dutzend in Hamburg; die Hochburg in Deutschland ist Berlin, die Hauptwirkungsstätte ihres Erfinders, des Medienkünstlers Aram Bartholl. Im Jahr 2010, während eines Aufenthalts in New York, hatte er das Projekt gestartet und die ersten fünf Deaddrops installiert. Er beschreibt seine Idee als „anonymous, offline, peer to peer file-sharing network in public space“, eine Austauschmöglichkeit für Daten, ganz ohne Internet und somit auch ohne verfolgbare digitale Spuren, was sie von onlinebasierten Strukturen wie Dropbox unterscheidet. Beinahe wie damals, als man Computerspiele auf Disketten unter seinen Freunden verteilte. Und, wenn man das Angebot entsprechend nutzt, genauso wenig legal.

Denn natürlich gibt es „wie bei allen Technologien eine Missbrauchsquote“, sagt Alex, der den Stick im Bahnhofsviertel montiert hat. Schließlich sind die Sticks in technischer Hinsicht bestens geeignet, um geschützte Medieninhalte wie Kinofilme oder Musikalben zu verbreiten. Gedacht sind sie indes eigentlich für etwas ganz anderes: Als Möglichkeit des „Datentransfers zwischen Leuten, die sich nicht kennen“, sagt Alex, als „Computerinterface, das vom privaten in den öffentlichen Raum verlagert ist“, als Medienkanal für die subkulturelle Szene. Bands können Demos darauf platzieren, Künstler ihre Werke vorstellen, andere ihre Urlaubsfotos, wenn sie wollen. Naja, und theoretisch kann Nutzer A dort auch eine heruntergeladene Kopie des neuesten oscargekrönten Hollywoodepos’ für Nutzer B hinterlegen – aber solche Leute dürften sich eher selten die Mühe machen, mit dem Notebook unterm Arm zum nächsten DeadDrop zu radeln, der Klick auf die Download-Schaltfläche auf einschlägigen Internetseiten ist da wesentlich weniger umständlich.

Geschrumpfte DeadDrop-Dichte

Der Stick an der Uni ist mittlerweile nicht mehr existent, ein längliches Loch zwischen zwei Umfassungssteinen und ein Häufchen Zementstaub zeugen entweder vom Mangel an handwerklichem Geschick des Platzierers oder von der Habgier eines Nutzers – vier Gigabyte Speicherkapazität hatte „DeadDrop of the Tentacle“, so hieß er; für so einen Stick zahlt man im Laden immerhin einen Fünfer. Der DeadDrop im Bahnhofsviertel ist noch da, und ich möchte wissen, was darauf zu finden ist. Mit einem leicht unguten Gefühl in der Magengegend schließe ich mein Notebook an – was, wenn ich mir etwas einfange, etwa eine virenverseuchte Datei öffne? Vor dieser Gefahr schrecken auch gestandene User zurück, in Kommentaren auf Bartholls Website findet sich viel Zustimmung zu seiner Idee, viele äußern aber auch Sicherheitsbedenken.

Die Sorge ist allerdings unbegründet, es scheint keine Malware auf dem Stick zu sein. Dafür Festivalfotos, hübsche Zeitrafferaufnahmen eines Gebäudeabrisses, der großartige Konzertfilm „The Year Punk Broke“ über die Europatournee von Sonic Youth 1991 sowie genug elektronische Mucke, um eine Party mittlerer Länge angemessen zu beschallen. Eine typische Zusammensetzung: „Meistens finden sich Videos oder Sets von lokalen DJs auf den DeadDrops“, oft kommen Fotos hinzu, „manchmal auch unschöne“, sagt Alex, aber das sei eher die Ausnahme. Im Gegensatz zu den Urheberrechtsverletzungen, die sich mutmaßlich auf jedem DeadDrop finden lassen – der Sonic-Youth-Film und das Album des Berliner Dubstep-Duos „Modeselektor“ sind aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf legalem Wege auf den Stick gelangt.

Digitales Ü-Ei

Für all das gäbe es auch andere und effizientere – wenn man auf eine möglichst breite Streuung aus wäre – Möglichkeiten der Verbreitung: Flickr, MySpace, YouTube. Aber genau diese ebenso hochkommerziellen wie kaum mehr überschaubaren Kanäle sollen mit den DeadDrops umgangen werden. Jenseits von Suchfunktionen und „Meistgeklickte Beiträge“-Listen hat der Nutzer hier das Gefühl, sich vorübergehend zu einer kleinen, auserlesenen Szene zu gesellen und ein elektronisches Überraschungsei zu öffnen. Man weiß nicht, was sich auf dem Stick befindet, bevor man seinen Computer anschließt. Und lernt auf diese Weise vielleicht Musik oder die Arbeit eines Künstlers kennen, von dem man zuvor noch nie etwas gehört hat.

Noch ist die Verbreitung der untoten Briefkästen nicht besonders weit gediehen, er würde sich wünschen, dass „ein paar Leute mehr auf den Zug aufspringen“ würden, sagt Alex. Sonst könnte Oldenburg bald wieder von der DeadDrop-Karte verschwinden, denn auch der letzte aktiv genutzte Stick wird wohl nicht ewig bleiben. Zwar ist er vielleicht stabiler angebracht als sein Uni-Pendant, aber die Tage der abbruchreifen Mauer, in der er steckt, dürften gezählt sein, wenn die Stadt ihre Umbaupläne für das Bahnhofsviertel umsetzt. Oder Wind und Wetter ihm den Garaus machen. Im Grunde würde er dem Begriff DeadDrop erst dann gerecht: Denn eigentlich sind diese Datendeponien gar nicht tot, sondern im Gegenteil mit höchst lebendigen Inhalten gefüllt.