Wer ist das Volk?

Die gute Nachricht für alle, die das Wort „Denkmalstreit“ nicht mehr hören können: Es geht in der Debatte wohl gar nicht mehr so sehr um den Grafen selbst – nicht um seine historische Beurteilung, nicht um die künstlerische Ausführung der Statue. Die schlechte Nachricht: Es geht um etwas viel, viel Ermüdenderes.

Charmanter Lösungsvorschlag des Antiquariats "Buchstabei": Warum nicht aus dem Bronzedenkmal so viele Grafenfigürchen machen, dass jeder eines bekommt? FOTO: M. Nolte

Charmanter Lösungsvorschlag des Antiquariats “Buchstabei”: Warum nicht aus dem Bronzedenkmal so viele Grafenfigürchen machen, dass jeder eines bekommt? FOTO: M. Nolte

Die seit Monaten andauernde Diskussion um das von Privatpersonen gestiftete Reiterstandbild kulminiert neuerdings in einer Zahl. Nein, es ist nicht die Zahl 100.000 – der Betrag in Euro, den das Denkmal gekostet haben soll und die von den Initiatoren immer mal wieder in die Debatte eingebracht wird, vermutlich, um zu unterstreichen, dass so viel Geld nicht einfach sinnlos ausgegeben worden sein darf. Es ist auch nicht die Zahl 1918, das Jahr, in dem – nicht zufällig zeitgleich mit dem Sturz der Monarchie in Deutschland – zuletzt ein solches Reiterstandbild aufgestellt worden ist, aber das scheint die Befürworter ohnehin kaum zu interessieren. Und es ist auch nicht die Zahl 345 – die Anzahl an Jahren, die der Graf nun schon tot ist – oder 30, die Zahl der Jahre, die jener Krieg gedauert hat, aus dem er die Stadt so geschickt heraushalten konnte.

Nein, gemeint ist die 80. 80 Prozent der Bürger, so wurde in der Diskussionsveranstaltung des Nordwestradios am Mittwoch gebetsmühlenartig behauptet, seien für die Aufstellung des Bronzegrafen vor dem Schloss. Vier von fünf Bürgern – das kam von der Zusammensetzung des Publikums im Café Curtiz her sogar hin: Der Großteil der anwesenden Damen und Herren vornehmlich älterer Jahrgänge beklatschte ausschließlich Äußerungen der beiden Denkmalapologeten – eingeladen waren Horst Milde als Mitinitiator und Harald Götting, Vorsitzender der AG Stadtoldenburger Bürgervereine, die nicht nur hinter den Denkmalplänen stehen, sondern offensichtlich auch einen guten Teil ihrer Klientel zu dieser Veranstaltung mobilisieren konnten. Für ihre Antipoden – Museumsdirektor Rainer Stamm, für den die Veranstaltung im eigenen Haus wie ein Auswärtsspiel gewirkt haben muss, sowie Grüne-Ratsherr Sebastian Beer – blieb eher Gejohle, Gezeter oder eisiges Schweigen übrig. Denkmalskritiker waren auch anwesend, aber nicht viele, die meisten dürften zu dieser Uhrzeit an ihren Arbeitsstellen gewesen sein – und die, die sich ins Schloss aufgemacht hatten, hielten sich vornehm zurück. Vielleicht befürchteten sie, geteert und gefedert zu werden. Unrealistisch schien das zeitweise nicht.

We are 80

80 Prozent aller Oldenburger sollen also, den Worten Mildes, Göttings und einiger dunkelrot angelaufener Gäste zufolge, für die Aufstellung des Denkmals am Schloss sein. Das wäre in der Tat eine starke Mehrheit, eine, an der man nun wahrlich nicht mehr zu rütteln bräuchte, und genauso wird sie auch propagiert: Wer eine solche Mehrheit nicht anerkennt, handelt undemokratisch. Das Problem ist nur: Diese Zahl beruht auf – rein gar nichts. Es gibt keine repräsentative Umfrage, aus der ein solcher Prozentsatz hervorgeht; es wurde bislang ja noch nicht einmal eine nichtrepräsentative in Angriff genommen, die dieser Bezeichnung auch nur annähernd gerecht würde. Nicht mal ein Milchmädchen, das sie berechnet haben könnte, ist in Sicht. Dabei wäre eine solche Umfrage wohl zu einem deutlich realistischeren Ergebnis gekommen.

Dennoch wird diese Zahl von den Befürwortern des Denkmals wie ein Feldzeichen vorangetragen in den „Krieg“, wie Mitinitiator Bernd Eylers die absehbare Diskussion schon vor Monaten plakativ genannt hatte. Und der Gegner steht auch schon fest: Es ist nicht einmal Stamm, der das Ding definitiv nicht vor seiner Tür haben will und dies auch geduldig begründet. Es sind auch nicht die Historiker, die dem Ansinnen eher reserviert, manche auch fassungslos, gegenüberstehen. Es sind „Die Da Oben“, stets in Großbuchstaben, die man auch heraushört. Die Ministerin. Der OB. Die im Kulturausschuss. Überhaupt alle Politiker. „Was wir wollen, interessiert Die Da Oben doch eh nicht“, ruft eine Frau wütend dazwischen und erntet ebenso Applaus wie jeder andere, der an diesem Nachmittag das Wort „Bürgerwillen“ in den Mund nimmt – was macht es da, dass die Dame vor einem Dreivierteljahr aller Wahrscheinlichkeit nach selbst noch nicht wusste, dass sie demnächst ein Reiterstandbild Anton Günthers haben wollen würde, und zwar so dringend, dass sie sich nunmehr von der Obrigkeit unterjocht fühlt.

Revoluzzerrhetorik, Oldenburg-style

Ach ja, die Obrigkeit. Gegen die hat der Ex-Landtagspräsident und Ex-OB Milde auch noch etwas im Köcher. „Da kommt eine Obrigkeit und will den Bürgern das vorenthalten“, schimpft er. Er spricht vom Dienstweg, den er gegangen sei: erst über Stamm, dann über die Abteilungsleiterin im Ministerium – wobei Milde nicht vergisst zu erwähnen, dass es sich bei ihr um die Ehefrau von Schwandner handelt, was von einigen Besuchern mit unwilligem Knurren quittiert wird – bis hin zur Ministerin, „die mir ein Gespräch verweigerte“, und von der er sich gewünscht habe, „sie wäre heute hier“. Empörend: Die Ministerin kommt nicht einmal nach Oldenburg, um sich zu wiederholen oder vor den Bürgervereinen zu rechtfertigen. Die Da Oben mal wieder.

Die Ministerin hatte in dieser Woche mitgeteilt, dass sie keine Veränderung der Situation seit ihrem letzten ablehnenden Bescheid vom November sehe. „Frau Wanka“, klagt Milde, begreife einfach nicht, dass „der Bürgerwille größer geworden“ sei. Also größer als bei ihrem letzten Schreiben im November. Diese Behauptung bleibt ebenfalls unbelegt, aber das ist auch gar nicht nötig, um das anwesende Publikum zu Anfeuerungsrufen zu bewegen: „Genau!“ „Jawoll!“ „So isses!“ Die Überzeugung, Teil einer wachsenden Mehrheit zu sein, ist in dieser Gruppe offenbar groß und wird umso größer, je öfter man sich gegenseitig darin bestärkt. Wenn es so weitergeht, dauert es wohl nicht mehr lange, bis die Zustimmung für das Denkmal über die 100-Prozent-Marke schnellt.

Aber woher kommt diese Zahl „80“ denn nun? Wahrscheinlich liegt der Ursprung ganz banal in einer Onlineumfrage, die die NWZ unter ihren Lesern im vergangenen Jahr durchgeführt hatte. Da waren 85 Prozent der Teilnehmer – nein, es müsste genauer heißen: 85 Prozent der getätigten Klicks – für die Aufstellung der Figur am Schloss. Allein: Der Wert, den Wissenschaftler und Umfrageexperten der Aussagekraft von Onlinevotings beimessen, ist gleich Null. Sie erreichen überhaupt nur eine bestimmte Klientel, die Stichprobe ist willkürlich, sie sind leicht zu beeinflussen, gar zu fälschen und in keiner Weise repräsentativ für die Allgemeinheit. Wären sie es, würde jeder vierte Oldenburger ein Ulrike-Meinhof-Standbild fordern.

Das ist manchen Leuten indes herzlich egal. Milde wirft die „80 Prozent“ immer wieder in die Runde, zuvor hatte er sie öffentlichkeitswirksam dem Oberbürgermeister um die Ohren geschlagen. „In einem am Dienstag veröffentlichten offenen Brief wirft Milde Schwandner vor, es ‚kümmert Sie nicht’, dass ‚weit über 80 Prozent der Bürger der Stadt’ sich über die Statue freuen würden“, schreibt die NWZ am 25. Januar. Die Zahl hat sich längst verselbstständig, sie wird unreflektiert immer wieder hervorgekehrt, in der Diskussionsveranstaltung, in Leserbriefen und Foren. Vor zwei Wochen kommentierte ein Leser im Oldenburger Lokalteil, dass sich, wir zitieren 1:1, „deutlich über 80 % !!! der O Bürger FÜR den Grafen am Schloss“ aussprächen. Ein von Götting am Mittwoch geäußerter Satz sagt viel zur Argumentationsweise der Denkmalunterstützer aus: „Die Stimmung ist ganz eindeutig und wir schätzen, 80 Prozent der Oldenburger und auch aus dem Umland sind dafür.“ Das muss man zweimal lesen: Sie „schätzen“, dass etwas „ganz eindeutig“ ist.

Für den Grafen, gegen Fäkalien!

Ob er denn keine repräsentativen Zahlen habe, fragte der souveräne und sichtlich um Ausgewogenheit bemühte Moderator Martin Busch den Vertreter der Bürgervereine. „Repräsentativ im statistischen Sinne sicherlich nicht“, gab Götting zu – aber er hätte gehört, dass es kein Problem war, „zahlreiche Unterschriften zu sammeln“. Die Aussagekraft einer Unterschriftensammlung wird dabei ebenso wenig in Frage gestellt wie Onlineumfragen – dabei fiele das leicht: Hape Kerkeling etwa hatte, lange vor seiner Horst-Schlämmer-Kampagne, in einer Rolle als unsympathischer Vorsitzender einer obskuren Splitterpartei, die sich gegen „Eurofäkalien in deutschen Flüssen“ aussprach, keine Probleme, in einer Fußgängerzone binnen weniger Stunden mehr als 400 Unterschriften zusammenzubekommen.

Nichtssagende Quellenlage hin, haarsträubende Methodik her: Die Zahl scheint längst in Stein gemeißelt zu sein. „80 Prozent der Oldenburger“, schmettert Milde, nun schon etwas ermüdend, in den Raum, „wollen das Denkmal“, und die zaghaften Versuche Beers, diese Zahl zu relativieren – „Es gibt auch Bürger, die es kritisch sehen“ – werden vom Publikum stante pede niedergebrüllt: „Ja, 20 Prozent!“ Ein anderer Besucher: „Da stehen die Grünen gerade!“ Was wohl heißen soll: Alle, die etwas an dem schönen Standbild auszusetzen haben, sind wohl ohnehin Grüne. Es seien doch bloß Schätzungen, entgegnet Beer; er erntet im Gegensatz zu Götting für die fast wortgleiche Aussage allerdings keinen Applaus. Und als er sagt: „Es gibt keine Umfrage dazu“, belfert es aus dem Publikum zurück: „Ach? Ja, WARUM denn nicht?“ Als hätte Beer persönlich eine solche verhindert.

Es ist jedoch viel simpler: Eine solche Umfrage kann nur von der Politik bzw. der Verwaltung der Stadt ausgehen. An die aber, das betont Milde immer wieder, habe er sich ja bewusst nicht gewandt, da die „alles zerredet hätten“, sondern gleich an das Land. Im Prinzip sind es somit lustigerweise ausgerechnet die Initiatoren, die einer Bürgerbefragung bislang im Weg standen. Egal – die Arschkarte in diesem Punkt hat Beer, er hatte sie sowieso schon ab dem Moment, als er Anton Günther zu Beginn als „eher durchschnittliche“ historische Figur bezeichnete. Das sagen zwar auch manche Historiker, aber denen hört in dieser ganzen Debatte ohnehin niemand mehr zu, ebenso wenig den Argumenten Stamms; und Beer erntete für seine Äußerung prompt Buhrufe. Majestätsbeleidigung! Der Jungspundpolitiker gehört ja irgendwie auch zu Denen Da Oben. Kein Vergleich zu unserem Grafen.

Einerlei. Eine Befragung wäre wohl ohnehin überflüssig, denn die Initiatoren und ihre Unterstützer sehen sich längst als Vollstrecker eines angenommenen „Bürgerwillens“. „Der öffentliche Raum gehört ja wohl allen Bürgern“, sagt Milde: „Und wenn man Rücksicht nimmt auf die Meinung der Bürger, dann ist die Entscheidung gefallen. Die Bürger wollen dieses Denkmal vor dem Schloss sehen.“ Applaus. Als Moderator Busch relativiert, es handele sich doch eher um „die Mehrheit derjenigen, die von der Tageszeitung befragt wurden“, schwenkt Milde schnell und geschmeidig um: „Wenn Sie erleben würden, wie oft bei mir zu Hause das Telefon klingelt und Leute Listen haben wollen“, Unterschriftenlisten also. Mehrere Tausend will er zusammengetragen haben. Mehr als Kerkeling.

BürgerBürgerBürgerBürger

Man merkt schon an diesem zusammenfassenden Artikel: „Die Bürger“, das ist ein in dieser Runde oft, sehr oft bemühter Begriff; auch Götting artikuliert sich ähnlich: Das Denkmal solle „dem Bürger gegeben werden“; „das muss man dem Bürger, dem etwas geschenkt wird, doch auch mal annehmen, als Stadt“ oder, etwas schwammiger, „man muss auch mal tolerant sein. Tolerant gegenüber dem Wunsch der Bürger, etwas zu haben“. Auch dafür gibt es Applaus. Beer findet es eher intolerant, wenn sich eine Gruppe hinstelle und sage: „Das sind die Bürgerinnen und Bürger.“ Da klatscht niemand.

„Die Bürger“ – wer ist das nun wieder? Die 80 Prozent, die das Denkmal angeblich wollen, klar – aber wer genau gehört dazu, wer ist das Volk, um dessen Willen es geht?
Die Leute, die sich auf dem Onlineauftritt der Tageszeitung tummeln und auf ein kleines Umfragekästchen klicken?
Die, die sich hinsetzen und einen Leserbrief schreiben?
Die bei Milde zuhause anrufen?
Die mittwochnachmittags Zeit und Lust haben, eine Diskussionsveranstaltung zu besuchen?

Zumindest sind diese Leute sich sicher, zur angenommenen überwältigenden Mehrheit zu zählen. Und sie sind sich sicher, dass die Denkmalinitiatoren ihren Willen, den „Bürgerwillen“ umsetzen wollen. Allerdings, und das störte offensichtlich niemanden: Milde kehrt nicht gerade hervor, dass er selbst sich auch erst dann an „die Bürger“ wandte, nachdem er bei den offiziellen Stellen – bei Denen Da Oben – abgeblitzt war. Und er verbirgt das in seinen Ausführungen so geschickt, dass den Anwesenden nicht auffällt, dass sie – „die Bürger“ – somit auch bei ihm, dem Volkstribun, ja erst an letzter Stelle derjenigen stehen, die nach ihrer Meinung gefragt werden. Kein Zweifel: Der Mann ist routinierter Berufspolitiker. Aber wenigstens, so glauben sie, keiner von Denen Da Oben.

 

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Die komplette Diskussionsveranstaltung lässt sich auf der Website des Nordwestradios nachhören. Die Zwischenrufe des Publikums sind allerdings mangels Mikrofonen nur sporadisch zu hören.