Feiertag in der B-Hölle

Dem VfB Oldenburg gelang die Beinahe-Sensation: Gegen den Hamburger SV unterlag der Fünftligist im DFB-Pokal denkbar knapp mit 1:2. Gewonnen hat er trotzdem, irgendwie.

Hamburger Sturm und Drang: Mladen Petric beim Freistoß. FOTO: M. Nolte

Hamburger Sturm und Drang: Mladen Petric beim Freistoß. FOTO: M. Nolte

Da war er, der Duft der großen weiten Fußballwelt, und er waberte durchs Marschwegstadion, das Marschwegviertel, ach was: die ganze Stadt. Mit dem HSV kam erstmals nach 15 Jahren wieder ein Bundesligist zu einem Pflichtspiel nach Oldenburg – damals war es Werder Bremen, dem der VfB, ebenfalls im Pokal, mit 1:2 unterlag, noch mit Hans-Jörg Butt im Tor, wem muss man das eigentlich erzählen. Das war zugleich auch das letzte Mal, dass das Stadion ausverkauft war. Bis gestern.

Diesem Duft, der allerdings die üblichen Spuren von Bier und Schweiß enthielt, wabert der Geist der Geschichte gleich hinterher. Fast fühlt man sich in glorreichere Zweitligazeiten zurückversetzt, die ansonsten größtenteils leeren Ränge voll besetzt, die Zusatztribüne erweckt zumindest, bei leicht zugekniffenen Augen, den Eindruck, sich in einem geschlossenen Stadionoval zu befinden. Es ist nicht die „Hölle von Donnerschwee“, aber wohl das Nächstbeste, was man in dieser Stadt an Fußballatmosphäre kriegen kann.

Und dann auch noch das: Fast hätte es geklappt, fast hätte der kleine VfB (der mit dem Stadion auf der Müllkippe) dem großen HSV (dem mit dem Stadion neben der Müllverbrennungsanlage) nach Hause geleuchtet, fast wäre die Sensation gelungen. Fast – wie 1996 gegen Bremen. Wenn Fidan zum 2:1 getroffen hätte. Oder Tschalumjan. Wenn, wenn, wenn. Ach, es hat etwas Tragisches, der VfB und das knappe Scheitern.

Dabei waren die im Vorfeld gebackenen Verbalbrötchen um so kleiner geworden, je näher der Spieltag rückte. „Wir hoffen den Favoriten ein bisschen ärgern zu können”, sagte VfB-Kapitän Robert Littmann; „Wir hoffen, das Ergebnis im Rahmen zu halten“, formulierte es Trainer Timo Ehle; „Für den VfB wäre es meiner Meinung nach ein Erfolg, wenn er mit weniger als fünf Toren Differenz verliert“, sagte Ex-VfB-Torjäger Christian Claassen der NWZ. Die üblichen Underdog-Floskeln eben, man erwartet sie vor einem Spiel wie diesem; dennoch fielen sie selbst für diese Umstände reichlich zurückhaltend aus.

Egal, 15:30 Uhr, es geht los. Vor uns auf der Tribüne irgendeine HSV-Prominenz, hinter uns Journalisten, deren Herz offenbar am HSV hängt, und neben uns eine Gruppe Damen, deren Mitfieberverhalten auf Spielerfrauen schließen lässt, aber wer weiß das schon. Schräg links Jörg Pilawa, bekennder HSV-Fan, allerdings vom VfB-Kurzzeit-Sponsor „Rügenwalder Mühle“, der Wurstfabrik, für die er Werbeträger ist, offenbar dazu verdonnert, einen VfB-Schal zu tragen. Man möchte sagen: Zwei Seelen wohnten, ach, in seiner Wurst. Äh, Brust.

Das Spiel läuft in der Anfangsphase erwartungsgemäß: Der HSV macht Druck, der VfB lauert auf Konterchancen. Wobei sich sehr schnell zeigt, dass die Blauen gedenken mitzuspielen. Bei den Hamburgern geht vieles über außen, links über Eljero Elia, rechts über Gökhan Töre, der die Statur eines Türstehers hat und, wenn man es genau nimmt, auch die Frisur. Endstation der meisten Hereingaben ist die solide stehende VfB-Abwehr.

Die 2.500 Gästefans machen weitaus mehr Krach als die restlichen 13.000 Zuschauer, was an der zurückhaltenden Oldenburger Art liegen mag oder daran, dass man sich nicht mehr so richtig daran erinnert, wie man eine Mannschaft nach vorne peitscht. Die Spieler lassen sich davon nicht irritieren, das Konzept „HSV ärgern“ geht auf, mit hohen, langen Bällen werden die Offensivkräfte Sebastian Ferrulli und Mehmet Ali Fidan mehrfach nach vorne geschickt.

Trotzdem ist es nicht wirklich überraschend, dass Hamburg in der 26. Minute in Führung geht: Freistoßflanke Dennis Aogo, Kapitän Heiko Westermann köpft zum 0:1 ein. Dass er dabei im Abseits steht, spricht sich erst später herum, nachdem die Zuschauer vor den Kneipenfernsehern die Wiederholung zu sehen bekommen und ihre Kumpels im Stadion anrufen. Dort werden die Zuschauer nach dem Gegentor noch ruhiger; nur das kollektive „EY!“, das tausende Zuschauer ausrufen, als Ferrulli nach einer recht kleinlichen Schiedsrichterentscheidung Gelb sieht, wird man bis in die Innenstadt gehört haben. Das Kichern ein paar Minuten später eher nicht, als der zu Boden gegangene Ferrulli seine Idee, „versehentlich“ mit der Hand an den Ball zu kommen, um so eine Unterbrechung zu erzwingen, mit dem offensichtlichen Gedanken „Upps, ich habe ja schon gelb“ in allerletzter Sekunde verwirft. Dennoch: Der Spruch „Jetzt geht’s los“ erfährt, trotz der weiterhin großen kämpferischen Leistung der Blauen, nach der HSV-Führung eine beunruhigende Neudefinition.

Allerdings nur acht Minuten lang. Dann schnappt sich Ferrulli den Ball, legt ihn sich vor, erscheint allein vor Torwart Jaroslav Drobny, nimmt sich alle Zeit, die er braucht, und schießt flach ein – 1:1. Die Zuschauer reiben sich nach dem Torjubel die Augen: Geht da vielleicht noch was? In diesem Spiel, dass alle schon im Vorfeld verloren gegeben haben? Sollte man vielleicht mehr Radau machen als Befreiungsschläge artig zu beklatschen? Die VfBler spielen nach vorne, wenn sich die Gelegenheit ergibt, und bereinigen hinten sämtliche Gefahrensituationen, die die Offensivabteilung des HSV produziert; manchmal hilft ihnen das Glück, viel öfter jedoch die Konzentration.

Es entwickelt sich ein spannendes Spiel, nicht der prognostizierte Kampf David gegen Goliath, obwohl der Klassenunterschied stets sichtbar bleibt. Es geht hin und her, vielleicht nach wie vor ein bisschen mehr hin als her, aber was soll’s; der VfB bleibt im Spiel und hat in der 61. und 66. Minute, als Fidan und der eingewechselte Tschalumjan knapp am Tor vorbeiköpfen, zwei hochkarätige Chancen zur Führung. Zwischendurch rettete Torwart Christian Meyer in höchster Not an der Strafraumgrenze vor dem allein heranstürmenden Petric (63.), der allerdings neun Minuten später nach Zuspiel von David Jarolim mit einem Flachschuss das 2:1 erzielt.

Erst jetzt geraten die Oldenburger ins Strudeln, das Spiel wird hektischer, die letzte Viertelstunde gehört den Hamburgern, die dem 3:1 weitaus näher sind als der VfB dem Ausgleich. Eine unglückliche Niederlage des Fünftligisten, aber kein unverdienter Sieg für die Hamburger. Und die VfB-Elf konnte ja, wie Ehle es vorher formuliert hatte, ohnehin nur gewinnen: An Erfahrung, an Sympathie, an Anerkennung. Das ist zweifelsohne mehr als gelungen. Es bleibt abzuwarten, wie lange dieser Schub in die demnächst beginnende Saison hinein reicht.

Bereits am Dienstag geht es weiter: Die erste Runde im Verbandspokal steht auf dem Programm, Rivale Meppen ist der Gegner und das Erreichen des Finales würde die Teilnahme am kommenden DFB-Pokal bedeuten. Kein einfacher Weg, aber vielleicht dauert es ja nicht noch einmal 14 Jahre, bis sich das ohnehin sehr junge Team für die nationale Bühne qualifizieren kann. Der Verein würde sich jedenfalls freuen, wenn gegen Meppen schon mal ähnlich viele Zuschauer kämen, sagte Vorstand Jörg Rosenbohm. Man wird ja wohl noch träumen dürfen, ob nun sportlich oder wirtschaftlich.

Schauen Sie sich zur Nachbereitung dieses denkwürdigen Spiels die Bildergeschichte “Fußballhölle – Hinterausgang” von Beate Lama an und als historische Einordnung der legendären VfB-Spielstätte in Donnerschwee die “Gute alte Fußballhölle”.