Same procedure as every decade

Na, heute beim Aufstehen auch so ein unbestimmtes Gefühl der Bedeutungsschwere in der Bauchgegend gehabt? Und anschließend gemutmaßt, dass die Weihnachtsschlemmerei den Digestivapparat immer noch lahmlegt oder das elfte Bier gestern abend irgendwie schlecht gewesen sein könnte? Das mag alles sein –  es kann aber auch lediglich am Datum liegen: Heute – jawohl, erst heute und nicht schon vor 365 Tagen – geht das erste Jahrzehnt des dritten Jahrtausends zu Ende. Zumindest für diejenigen, die ihre mathematische Grundbildung aus den Tiefen des Langzeitgedächtnisses hervorkramen und reaktivieren.

[Klugscheißmodus] Nochmal zum rekapitulieren: Es gab kein Jahr Null; also war das Jahr, das unmittelbar mit der angenommenen Geburt Jesus’ begann, das Jahr 1. Nach 365 Tagen war es um und das Jahr 2 begann. Und nach zehnmal 365 Tagen war das Jahr 10 um und damit auch das erste komplette Jahrzehnt – an der Schwelle vom Jahr 10 zum Jahr 11. Daran hat sich bis 2010/2011 nichts geändert: Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende enden stets, wenn “die zehn voll ist”. Auch die Milleniumsfeiern kamen demzufolge ein Jahr zu früh. [/Klugscheißmodus]

Jaja, ich weiß: Ich selbst habe bereits vor elf Monaten in einer kompletten NWZ-Beilage das Ende der Dekade verkündet und auf selbiges zurückgeblickt. Angesichts des allgemeinen Sprachgebrauchs war das auch kein vollkommen abwegiges Unterfangen: Schließlich ist es üblich, dass die Jahre mit den Endungen 0 bis 9 zu Jahrzehnten zusammengefasst werden – es klänge einfach zu komisch, das Jahr 1970 den 60ern zuzuordnen, 1960 jedoch nicht. Außerdem greift in solchen Fällen bekanntlich der mediale Automatismus des Mitziehens: Wenn alle anderen Jahrzehntsrückblicke veröffentlichen, darf man selber nicht hintanstehen, auch wenn man rechnerisch noch so sehr auf der sicheren Seite ist. Betrifft übrigens auch Gastwirte. Aber nicht diesen Blog. ICH verkünde daher: Dieses Jahrzehnt geht HEUTE zu Ende, nicht 2009 und nicht 2011; die 12 scheidet vollkommen aus (da endet vielleicht die Welt, aber nicht das Jahrzehnt).

Würde ich den erwähnten Rückblick heute produzieren – die anderthalb zusätzlichen Seiten wären mit der Katastrophe in Haiti, dem Deepwater-Horizon-Desaster, der erfolgreichen Vorantreibung der diversen gesellschaftlichen Spaltungen, verschiedenen pleite gegangenen Ländern und Stuttgart 21 zu füllen gewesen. Und diese Liste zeigt, dass das viel geschmähte Format des Rückblicks doch seine Existenzberechtigung hat: Denn fast all diese Punkte sind schon wieder halb in Vergessenheit geraten – die Haitianer leben indes immer noch in Ruinen und sterben an Seuchen, die Ölpest tötet immer noch Tiere im Golf von Mexiko und das Thema Stuttgart 21 ist auch schon wieder durch. Nur das fortwährende Aufeinanderhetzen gesellschaftlicher Gruppen – das ist aktueller denn je und wird es wohl auch 2011 bleiben. Hurra.

In diesem Sinne: Ich wünsche allen ein besseres Jahr. Auch wenn ich selbst nicht recht daran glaube.

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